Raumbild und Bildraum
Zum Verhältnis von Architektur, Skulptur und Stadt
Florian Matzner

"Die Qualität der Architektur misst man am besten an der Fläche blauen Himmels, die sie für
den Blick zwischen den Bauwerken freilässt.
Massimiliano Fuksas. (1)


Eine seltsame Szenerie: Die ehemalige Betriebskantine einer kleinen Fabrik, hergerichtet mit
weiß getünchten Wänden und grauem Fußboden in der so genannten Berliner Kunstfabrik am
Flutgraben - einen nüchternen white cube also - hat Martin Pfahler mit wenigen
architektonischen Versatzstücken in eine andere Welt verwandelt. Die lang gestreckte
Ausstellungshalle - in drei Kompartimente durch zwei frei stehende Wände unterteilt - wurde
im Mittelteil durch ein schräg zur Raumachse gestelltes Architekturelement gleich einer
weiteren Trennwand ergänzt. Das eingefügte Architekturelement greift die Maße der
vorhandenen Wände auf und wurde doch in besonderer Weise transformiert. In den einzelnen
Kompartimenten kann sich der Besucher sowohl innerhalb des Raumes wie auch vor oder hinter
seinen Grenzen bewegen: Positives Volumen und dessen negative Begrenzung wechseln als
Schnittstellen von Raumerlebnis einander ab. Die formale Vorgehensweise hat der Künstler
selbst verglichen mit der "Bearbeitung eines Faltkartons, den man aufschneidet und dessen
Seitenwände man anschließend umklappt", und weiter: "Der Vorgang entspricht etwa dem
Umstülpen eines Handschuhs." (2)
Oder doch nicht? Während das Umstülpen eines Handschuhs nämlich "von rechts auf links" und
damit von außen nach innen alternativ nur die eine oder die andere Seite zeigt, bieten die
Architekturelemente in den Arbeiten Martin Pfahlers beides zur Ansicht. Mit verblüffender Selbstverständlichkeit ist der Betrachter in die Lage versetzt, Architektur im Sinne des umbauten und damit begrenzten Raumes sowohl von außen wie von innen gleichzeitig zu rezipieren. Ursprünglich zweckgebundene Architektur wird so unversehens zu einer zwar funktionslosen, aber deshalb optisch und haptisch erfahrbaren Skulptur - oder, um mit der klassischen Terminologie der Kunstgeschichte zu sprechen: Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Medien der Skulptur und der Plastik, zwischen dem Wegnehmen und dem Dazugeben von Volumen oder Raum, wie dies Wolfgang Winter und Berthold Hörbelt einmal formuliert haben: "Es geht um die Herausarbeitung eines SkulpturBegriffes, der weiterführend sein kann. Das Wort Skulptur stammt ja vom lateinischen "sculpere", was übersetzt werden kann mit meißeln und schnitzen (...) oder auch bilden. Meißeln und Schnitzen sind Tätigkeiten, die aber auch abstrakter zu verstehen sind als Tätigkeiten, die etwas wegnehmen, bis etwas anderes übrig bleibt - im Gegensatz zum Plastiker, der Ton oder andere Massen anträgt, bis etwas entsteht. (...) Ein interessanter Aspekt des Wegnehmens ist auch, dass möglicherweise eine Skulptur dadurch entstehen kann, dass etwas weggenommen wird, also gar kein materialer Gegenstand erkennbar ist, sondern nur noch die "Wesenhaftigkeit" und Anordnung bereits vorhandener Dinge durch das Entfernen sichtbar gemacht werden, die dadurch aber enorme skulpturale Qualitäten bekommen können. (3)
Martin Pfahler geht da aber noch einen Schritt weiter, wenn er konstatiert: "Was zeichnet einen
Raum oder Ort aus, frage ich mich, dass er als Skulptur gelesen wird? Oder andersherum, wodurch wird für den Besucher ein Ort zur Skulptur? Ich versuche dort anzusetzen, wo ein Raum von sich aus kommuniziert und gelesen wird, zum Beispiel in seinem natürlichen
Gebrauchswert oder auch in seiner institutionellen Symbolik. Funktionen interessieren mich in Hinblick auf Bedeutung, da sie einen Gebrauch vorzugeben scheinen. Auch deshalb, da manche Architekturen - zum Beispiel in den 70er Jahren - vorgeben, rein funktional zu sein, was von sich aus schon ein Paradox ist, da ein Ort nie "rein funktional" sein kann. (4)

Szenenwechsel
Bereits 1998 hatte Martin Pfahler in einer Rauminstallation für das Münchener Ausstellungsforum FOE 156 einen vergleichbaren konzeptuellen Ansatz verfolgt, wenn er mit Pit Stop ein modellhaft erscheinendes Architekturfragment dergestalt platziert, dass es beinahe selbstverständlich als immer da gewesener Bestandteil des Raumes erscheint, darüber hinaus eine Funktion oder einen Zweck suggeriert, der tatsächlich zwar besteht, in der konkreten Ausstellungssituation aber nicht "eingelöst" wird. (5)
Mit den Arbeiten RIFF # Flutgraben ebenso wie mit Pit Stop werden banale Architekturen und deren ästhetisch belanglose Bestandteile wie Wandöffnungen, Fensterlaibungen, Mauervorsprünge, Hausecken usw. plötzlich zu merkwürdig bedeutungsgeladenen Ikonen der
gebauten Umwelt, in und mit der der Betrachter zu leben gewohnt ist. "Aber da gibt es einen Dreh", hat die slowenische Künstlerin Marjetica Potrc einmal im Umkehrschluss formuliert, "denn wir sublimieren gerne die Wirklichkeit, oder nicht? Es ist nicht das Wirkliche, was da ist - da ist, was wir für das Wirkliche halten!" (6) Diesen Wechsel von der Realität zur Virtualität, vom Gebauten zum Erdachten, vom Betrachteten zum Erlebten - und vice versa - beschreiben auch die Arbeiten von Martin Pfahler in ihrer bewusst spröden Eintönigkeit, in der Vordergründiges mit einem Male hintergründig erscheint, in der das Banale unerhört subtil wird.

Rückblick nach vorn
Nicht erst seit den bahnbrechenden architektonischen und urbanistischen Spurensuchen eines Gordon Matta Clark. (7) haben sich die so genannten bildenden Künste mit den formalen und ikonographischen Bedingtheiten und Maßstäben des Gebauten auseinander gesetzt, denn mehr noch als die Malerei oder die Bildhauerei bietet das Medium der Architektur die Möglichkeit, einen Ort und seine Geschichte zu deklinieren, also die Zeit eines Raumes zu datieren, die erste, zweite und dritte Dimension zusammen mit der vierten Dimension als ineinander greifendes Netzwerk zu definieren, in dem der Betrachter - oder besser Begeher - als gleichsam fünfte Dimension hinzugefügt wird, indem er die ersten vier zu einer, immer
wieder neuen Dimension verknüpft. In diesen Kategorien werden Architektur und Stadt als historisch gewachsenes Gebilde immer wieder neu aktualisiert und von den jeweiligen Zeitgenossen immer wieder anders "gelesen".
In dieser Erfahrungswelt, die sich nichtsdestotrotz als Dilemma entlarvt, setzt das Konzept Martin Pfahlers an, denn - um noch einmal Marjetica Potrc zu zitieren: "Moderne Staaten sind anhand bestimmter räumlicher Begriffe organisiert und sie nutzen den Raum gut. Auch wenn wir mit den Präsentationsformen vertraut sind, heißt das nicht notwendigerweise, dass sie den
modernen Erfahrungswerten entsprechen. Ich erwarte, dass es in Zukunft mehr auf die persönliche Initiative ankommen wird. Ich glaube, dass Individuen die Themen bestimmen werden." (8)
Wie aber sehen diese modernen Erfahrungswerte aus - die zeitgenössische und zeitgemäße Rezeption also von anonymem Raum als Verortung von Bewegen und Erleben des Individuums? Die Architekturskulpturen (9) von Martin Pfahler jedenfalls suggerieren nur auf den ersten Blick den künstlerischen Versuch einer reinen Formanalyse von Raum. Bei näherer Betrachtung
respektive Begehung dieser Volumina aber wird vielmehr neuer Raum im Sinne von Rezeptions und Lebensraum geschaffen. Der Künstler arbeitet an der paradoxen Schnittstelle von Form und Funktion: Der banalen Bedingtheit herkömmlicher Architektur steht die Freiheit der funktionslosen Leerräume in den Arbeiten Martin Pfahlers gegenüber, denn "es ist gut, etwas zu
haben, das keinen Nutzen für die Stadt hat. Ich denke, dass Städte leere Gebäude brauchen (Ruheorte), so
wie ein Mensch einen Platz zum Schlafen braucht. Außerdem - urbane Leerflächen sind gut für
Tagträume". (10)
Eben diese Leere postuliert auch Martin Pfahler in seinen nüchternen Rauminstallationen; seine Architekturen werden damit zum Sinnbild einer Utopie, einer Vision: Es ist die "docta spes",die "begriffene Hoffnung" im Sinne Ernst Blochs, die spätestens seit dem Werk Utopia von
Thomas Morus aus dem frühen 16. Jahrhundert Künstler und Schriftsteller immer wieder herausgefordert hat, einen Hoffnungshorizont jenseits der objektiven, allzu banalen Realitätszwänge zu entwerfen. (1) In der zeitgenössischen Kunst gibt es zahlreiche Beispiele für
diese Utopien, die sich bezeichnenderweise immer auf die Menschen in Großstädten, in Metropolen und damit auf deren Architekturen beziehen: Ende der 70er Jahre hatte Louise Bourgeois eine begehbare Architekturskulptur erträumt, eine auf den Kopf gestellte Kuppel gigantischen Ausmaßes mit dem Titel The world is a theatre and we each have a role, denn - so hat die Künstlerin geschrieben: "The metaphor is, each of us is the center of our universe." (12)

1) Massimiliano Fuksas, zitiert nach Bert Theis, "Einige Samples", in: Public Art - Kunst
im öffentlichen Raum, Hg. Florian Matzner. OstfildernRuit 2001, S. 109.
2) Martin Pfahler, "RIFF # Flutgraben - 2yk Galerie, Kunstfabrik am Flutgraben, Berlin 2002", unpublizierte Projektdokumentation.
3) Zitiert nach Wolfgang Winter und Berthold Hörbelt, Hg. Florian Matzner. OstfildernRuit 1999, S. 39-41.
4 Martin Pfahler, Email an den Autor, 25.3.2003.
5) Zu Pit Stop siehe auch Heinz Schütz, "Architektur in der Schwebelage", in: Kat. FOE 156: neunzehnhundertachtundneunzig, Hg. Christopher Kramatschek. Augsburg 1998, S. 8-10.
6) Marjetica Potrc, zitiert nach Florian Matzner, "Künstlerumfrage", in: Basisarbeit, Hg. Olaf Metzel. München 1999,
S. 187. Potrc arbeitet wie Pfahler mit dem Motiv des Architekturfragments: Siehe hierzu Kat. ArchitekturSkulptur, Joze Barsi / Marjetica Potrc, Hg. Institut für Auslandsbeziehungen. Stuttgart 1995.
7) Siehe zuletzt Kat. Gordon MattaClark, Food, Hg. Klaus Bußmann / Markus Müller. Münster 2000, mit der Rekonstruktion des Architekturfragments Bingo von 1974.
8) Marjetica Potrc, "Der öffentliche Raum in der modernen Stadt", in: Public Art, op.cit, S. 30
9) Zur Geschichte und Terminologie der Architekturskulptur siehe Klaus Jan Philipp, ArchitekturSkulptur. Die Geschichte einer fruchtbaren Beziehung. Stuttgart / München 2002, bes. S. 48, 5659.
10) Marjetica Potrc, "Magadan (Projektbeschreibung)", in: Kat. Skulptur. Projekte in Münster 1997, Hg. Klaus Bußmann / Kasper König / Florian Matzner. OstfildernRuit 1997, S. 324.
11) Siehe allg. HannoWalter Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München 1989, bes. S. 9.
12) Louise Bourgeois, Projektbeschreibung, zit. nach Unbuilt Roads - 107 Unrealized Projects,
Hg. Hans Ulrich Obrist / Guy Tortosa. OstfildernRuit
1997, n.p., "Projekt No. 12". Als Grund für die Nichtrealisierung gibt die Künstlerin an: "Complicated and too expensive but never
discarded."